Die nicht enden wollenden schlechten Nachrichten kratzen manchmal an meiner grundsätzlich positiven Lebenseinstellung. Dann wird es wieder Zeit für etwas Psychohygiene. Bewegung in der Natur funktioniert meistens ganz gut für mich. Körperliche Aktivität hilft, das Stresshormon Cortisol abzubauen und so beschloss ich einen nahegelegenen kleinen Berg hinauf zu wandern . Der größere Teil des Weges verlief über anspruchslose Forstwege. Das habe ich für eine Bewusstseinsübung genutzt und auch dieses Mal habe ich wieder etwas Neues über mich gelernt. Was das ist, verrate ich gleich. Ich nenne die Übung den weichen Blick.
Wir sind die meiste Zeit fokussiert
Sie ist das genaue Gegenteil von dem, was wir die meiste Zeit tun, nämlich auf irgendetwas fokussiert sein. Wenn wir uns durch den Tag bewegen, springt unser Blick von einem Objekt zum nächsten. Immer ist er auf etwas konzentriert. Mit unserem Denken verhält es sich ebenso. Ein Gedanke folgt dem nächsten. Menschen, die auf Nachfrage vorgeben gerade an nichts zu denken, wollen wahrscheinlich bloß nicht darüber reden. Dazu kommt, dass unser Denken selten auf die Gegenwart gerichtet ist. Viel öfter hängen wir Vergangenem nach oder planen für die Zukunft.
Als meine Kinder noch klein waren, habe ich sie gerne beim Spielen beobachtet. Um diese absolute Präsenz im Augenblick habe ich sie immer ein wenig beneidet.
Der weiche Blick bringt uns genau das. Was dafür zu tun ist?
So geht der weiche Blick
Such Dir einen Weg in der freien Natur, auf dem Du nicht so genau auf Deine Schritte achten musst. Er sollte frei von unvorhersehbaren Hindernissen sein. Ein Forstweg im Wald mit möglichst wenig Menschen ist ideal. Beim Gehen parkst Du den Blick auf einem imaginären Punkt ca. 10 – 15 Meter vor Dir. Dabei betrachtest Du nichts, was dort zu sehen ist. Fokussiere nicht, sondern lass Deinen Blick von diesem Punkt aus ins Leere laufen. Beziehe so Dein gesamtes Blickfeld in Deine Aufmerksamkeit mit ein.
Das ist die erste Stufe dieser Übung: Gehen ohne den Blick zu fokussieren und dabei das ganze 180 Grad Blickfeld wahrnehmen.
Übe das eine Weile. Du wirst feststellen, dass Dein Blick trotz aller Bemühungen immer wieder an verschiedenen Dingen hängen bleiben wird. Lass Dich davon nicht beirren und beginne einfach wieder von Neuem. Löse dich davon und erfasse wieder das gesamte Blickfeld.
Der weiche Blick ist eine Achtsamkeitsübung
Sobald Du darin etwas Übung hast, kannst Du diese achtsame Wahrnehmung des Moments auf weitere Sinne ausdehnen. Spüre zum Beispiel Deinen Schritten nach, der Art und Weise, wie Dein Körper mit Deinem Tun und mit der Umwelt interagiert. Anspannung, Kraft, Erschöpfung, Befindlichkeiten – alles, was in diesem Moment ist, darf sein. Nimm die Gerüche wahr, die Dich umgeben. Oder betrachte Deine Gedankenwelt mit ebenjener gleich-gültigen Wahrnehmung von Ideen, Fragen, Erinnerungen und Aufgaben, die kommen, da sind, gehen.
Die Herausforderung besteht darin, sich dabei in absoluter Gleichgültigkeit zu üben. Nichts davon bekommt besondere Aufmerksamkeit, jede Wahrnehmung, jedes Gefühl, jeder Gedanke ist gleich gültig. Und ganz wichtig: Nichts bewerten. Alles darf sein.
Es wird einige Zeit und Übung brauchen, bis Dir das gelingt und dieser Aufwand wird sich für Dich lohnen.
Du wirst die Natur intensiver erleben und Dich nachhaltiger erholen und hin und wieder etwas Neues an Dir entdecken.
Was ich dabei herausgefunden habe
Ich habe z.B. beobachtet, wie sich meine Art zu gehen während der Übung verändert hat. Zu Beginn habe ich auf dem abschüssigen Forstweg viel Kraft in die Kontrolle meiner Gehgeschwindigkeit gesteckt. Meine Wanderstöcke habe ich eher zum Bremsen genutzt.
In der Übung konnte ich mir dabei zusehen, wie meine Schritte kraftvoller wurden und ich meine Wanderstöcke zum Anschieben verwendete. Ich fühlte mich stark und kraftvoll und war voller Zuversicht. Dieses Gefühl hat mich noch einige Tage begleitet und ich kann es mir vergegenwärtigen, wenn es mir guttut.
Probiere es aus und hinterlasse gerne einen Kommentar mit Deinen Erfahrungen unter diesem Artikel. Ich freue mich über Deine Rückmeldungen!
Update Januar 2022
Inzwischen habe ich eine wissenschaftliche Erklärung gefunden, warum diese Übung so gut funktioniert. An der Stanford University haben Wissenschaftler erforscht, wie sich unsere Art zu sehen und zu atmen auf das autonome Nervensystem auswirken. Wenn Du bewusst defokussierst, wie ich es in der Übung beschrieben habe, senkt sich automatisch Dein Stresslevel.
»Sichtfeld und Atmung sind die Pforten zur autonomen Erregung, weil wir sie bewusst kontrollieren können« (Andrew Huberman, Neurobiologe, Stanford University)
Falls Du es über den Atem probieren willst, findest Du hier die passenden Übungen:
Atemübungen Teil1
Atemübungen Teil2
Atemübungen Teil3
Update Oktober 2023
Andrew Huberman hat einen hörenswerten Podcast. Du findest ihn hier.